Zurück zu mir finden – die Übung „Clear a Space“

Lesedauer: ca. 10 Minuten

 

Ich zähle zu den vielen Menschen, denen es nicht gelingt, im Alltag jederzeit entspannt und ruhig zu sein. Das liegt vielleicht auch an dem mir inne liegenden Tempo, das einfach etwas höher ist. Gleichzeitig habe ich erfahren, dass es mir sehr guttut, im Alltag kurze Auszeiten zu nehmen. Wenn ich das tue, beruhigt sich mein Herzschlag, ich bin weniger gestresst, und ich schlafe auch besser. Es ist für mich nicht gut, immer auf einer hohen Geschwindigkeit zu laufen, auch, wenn ich das für viele Jahre dachte. Nein, mein Körper baut dann zu viel Stresshormone auf und wird somit in einer stetigen Fluchtbereitschaft gehalten. Das wirkt sich mit der Zeit negativ auf meinen Körper aus.

Sympathikus und Parasympathikus

Zu diesem Wirkzusammenhang im Körper gibt es viele wissenschaftliche Untersuchungen. Der grundlegende Mechanismus, der sehr zu meinem Verständnis beigetragen hat, ist folgender: Sympathikus und Parasympathikus sind zwei von drei Komponenten unseres vegetativen Nervensystems (die dritte ist das Darmnervensystem). Aus der Evolution heraus ist der Sympathikus zuständig für Körperspannung, Bewegung, Aktivität, schnelle Entscheidungen, Flucht und Jagd, er wird unter anderem durch Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin gesteuert. Sein „Gegenpart“ ist der Parasympathikus. Er setzte ein, wenn sich unsere Vorfahren nach der Jagd entspannten, wenn keine Feinde in der Nähe waren und sie außer Gefahr waren. Die Lebensweise, die wir praktizieren, ist in vielerlei Hinsicht nicht so klar strukturiert. Im Berufsleben oder auch zu Hause gibt es viele kleine Situationen, die Stress bereiten und somit den Sympathikus „füttern“. Dann kommt leider zwischendurch selten so richtig das Signal, dass die „Gefahr“ vorbei ist und wieder Entspannung einsetzen kann. Und genau dort liegt eine ernsthafte Bedrohung für unsere Gesundheit. Ein ständiger Stresslevel wird aufrechterhalten, und das verschleißt unsere Organe und Gefäße. Manche können auch nicht mehr richtig entspannen und leiden unter Schlafstörungen.

Wenn wir nicht von selbst tief entspannen können, sollten wir unserem Körper durch kleine Übungen das Signal geben, dass er sich zwischendurch wieder entspannen darf. Wenn wir das nicht tun, stehen wir in der Gefahr, ständig mit einer erhöhten Drehzahl zu laufen. Die Organe und Gefäße können so stark beansprucht werden, dass es zu Schädigungen kommt. Mal abgesehen davon, was der Stress psychisch mit uns macht.

 

Wie finde ich für mich

die richtige Entspannung?

Viele Menschen fühlen sich zwar gestresst, wissen aber nicht, wie sie zur Entspannung zurück finden können. Nach der „richtigen“ Entspannungstechnik oder Sportart zu suchen, kann uns schon wieder Stress bereiten. Insbesondere dann, wenn wir terminlich durch Job oder Familie stark eingespannt sind. Dann kommt der Gedanke: „Wann soll ich das denn bitte noch schaffen?“ Und so ganz abwegig ist dieser Gedanke ja auch nicht. Bis ich die richtige Form der Entspannung oder Bewegung für mich gefunden habe, ist der Stresslevel höher. Umso wichtiger erscheint es mir, den Bekanntheitsgrad von kleinen „Alltagshelfern“ zu erhöhen. Diese zeichnet aus, dass man sie rasch erlernen kann, schnell durchführen, möglichst überall, ganz allein und ohne Anleitung oder Ausrüstung. Eine davon hatte ich vor einigen Wochen vorgestellt: Die 5-Minuten-Fitness. Heute geht es um die Entspannungsübung „Clear a Space“.

 

Warum “Clear a Space”?

 

„Clear a Space“ ist eine Entspannungs- und Konzentrationsübung. Ich habe sie im Rahmen eines Kurses an der TU Delft über die Online-Studien-Plattform edx.org kennen gelernt. Sie ist für alle Mögliche hilfreich. Im Online-Seminar vorgestellt wurde sie durch Joan Klagsbrun. Sie ist Psychologin und lehrt an der Lesley University in Massachusetts, USA, am Department of Counseling Psychology. In ihrem Artikel schilderte sie, dass sie zu Beginn ihrer Vorlesung zehn bis fünfzehn Minuten darauf verwendet, mit ihren Studenten die „Clear a Space“ (sie nennt es „Making Space“)-Technik anzuwenden. Vermeintlich verlorene Zeit, die aber dazu führt, dass die Studenten das, was danach in der Vorlesung diskutiert wird, viel tiefer verinnerlichen, als wenn sie mit ihren Gedanken noch bei anderen Themen verweilen würden. Die Technik ist auch der erste Schritt im Konzept „Focusing“, das durch Eugene Gendlin, einen der Vorreiter der personenorientierten Psychologie und Philosophen, beschrieben wurde.

Einer der wichtigsten Grundgedanken der Technik ist: Ich bin nicht meine Probleme. Ich habe Probleme und Dinge, die ich lösen möchte oder muss. Gleichzeitg gibt es einen Platz, an dem ich nur ich sein darf.

 

Die Technik „Clear a Space”

 

Und wie funktioniert die Technik jetzt? Im Kurs hat Mia Leijssen, die Kursleiterin, sie vorgestellt. Mia Leijssen lehrt an der TU Delft in Belgien. Auf Youtube kann man sich auch eine geführte Anleitung mit ihr auf Englisch anschauen. Auf ihre Ausführungen beziehe ich mich hier.

 

  1. Stelle sicher, dass du bequem sitzt und nicht gestört werden wirst.
  2. Versuche, dir selbst eine gute Gesellschaft zu sein. Das kannst du machen, indem du dich selbst warm und herzlich willkommen heißt. So, wie du es mit einem guten Freund machen würdest, dem du offen zuhören möchtest.
  3. Wenn du möchtest, kannst du für eine Weile nur deiner Atmung folgen, ohne dass du sie verändern möchtest. Atme einfach bewusst ein und aus.
  4. Wende jetzt deine Aufmerksamkeit deinem Körper zu. Vielleicht zuerst Arme und Beine, dann die Fläche, mit der du Kontakt zu dem hast, worauf du sitzt. Lasse dann die Aufmerksamkeit auf der Mitte deines Körpers verweilen: Auf deinem Hals, deinem Oberkörper, deinem Bauch. Bleib mit deiner Aufmerksamkeit für eine kurze Weile in der Mitte deines Körpers.
  5. Jetzt kannst du dich fragen: „Was nimmt im Moment meine Aufmerksamkeit in Anspruch?“ Oder „Wie fühle ich mich gerade?“. Du könntest auch fragen: „Wie läuft mein Leben zur Zeit? Welche Dinge beschäftigen mich gerade besonders?“. Eine andere Möglichkeit wäre, zu fragen „Was hält mich im Moment davon ab, dass ich einen offenen Raum in mir spüren kann?“
  6. Nimm alles bewusst wahr, was kommt, und spüre in deinem Körper nach, wie es sich dort anfühlt. Tauch zu diesem Zeitpunkt noch in kein Thema tiefer ein. Nimm es nur einfach wahr, und sage dir: „Ja, das ist da, ich kann es spüren.“
  7. Du kannst dir die Themen, die aufkommen, im Computer oder auf einem Zettel notieren. Lass alles so sein, wie es ist. Schreib ein paar Wörter zu jedem Thema auf. Nimm dir die Zeit dafür, die du brauchst, auch, wenn es viele Themen sind.
  8. Dann erlaubst du dir, alle diese Themen für einen Moment zur Seite zu legen. Vielleicht schließt du das Dokument auf deinem Computer, oder du legst die Liste zur Seite. Manche Menschen finden es angenehm, sich vorzustellen, dass jedes Thema einen bestimmten Platz im Raum bekommt (z. B. auf einem Regal, in einer Ecke) oder in eine Kiste gepackt wird. Die Themen sind nicht weg, sie werden da sein und bleiben. Aber du entscheidest, in welcher aktuellen Entfernung du sie verwahrst. Zögere nicht, den Ort eines Themas noch einmal zu verändern, bis es sich gut anfühlt.
  9. Fühl dann in dir nach, wie es sich anfühlt, diese Themen an einem sicheren Ort verwahrt zu haben. Fühle nach, ob du jetzt einen offenen inneren Raum in dir spürst.
  10. Falls nicht, verwahre noch weitere Themen, die hoch kommen, an sicheren Orten.
  11. Wenn du den offenen inneren Raum spürst, verweile eine oder zwei Minuten bei diesem Gefühl, losgelöst von allen deinen Problemen zu sein. Vielleicht möchtest du dir notieren, wie es sich anfühlt.
  12. Bist du jetzt bereit, dich deiner nächsten Aufgabe zuzuwenden? Wenn nicht, nimm dir noch mehr Zeit für das, was du brauchst.

 

Meine Erfahrungen mit „Clear a space“

 

Als ich die Übung zum ersten Mal gemacht habe, war ich völlig überwältigt. Ich konnte eine physisch spürbare Entspannung in meinem Körper feststellen, und es fühlte sich für mich einfach großartig an, für einen Moment zu merken: Ja, ich habe Probleme, aber ich bin nicht meine Probleme. Sie werden da sein, wenn ich mich ihnen zuwende, aber es gibt einen Raum, in dem ich frei existieren darf. Nach der Übung fiel es mir viel leichter, mich wieder meinem Alltag zuzuwenden, ich fühlte mich frei und erfrischt, wie nach einem Schlaf.

Wer andere Techniken bevorzugt, super. Mir hat diese kurze und leicht anzuwendende Technik schon an vielen stressigen Tagen das Leben erleichtert. Viel Spaß beim Ausprobieren!

Fazit

  • Die Technik „Clear a Space” erlaubt es uns, in wenigen Minuten unserem Körper eine Atempause von allen drängenden Fragen, Themen und Problemen zu geben, um uns danach erfrischt und erholt wieder ihrer Lösung zu widmen.
  • Die Technik ist für jeden erlernbar und nimmt ca. 10-15 Minuten in Anspruch.

 

Quellen und Verweise

  • Michalsen, Andreas: Heilen mit der Kraft der Natur, Insel Verlag, Berlin, 7. Auflage 2017
  • Gendlin, Eugene, Focusing
  • Klagsbrun, Joan: Finding Sanctuary in a Stressful Environment
  • The Use of Clearing a Space To Enhance Learning For College and Graduate Students, edx.org, MOOC “Existential Well-being Counseling – A Person-Centred Experiential Approach”, started in September 2017.
  • Leijssen, Mia: Exercise Making Space, edx.org, MOOC “Existential Well-being Counseling – A Person-Centred Experiential Approach”, started in September 2017.
  • http://www.focusing.org/chfc/index.html)

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